Spiele, Simulation und dynamische Systeme
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Wer behauptet, der Mensch zerstöre seine Lebensgrundlagen durch die egoistische Verfolgung seiner Interessen, wird allgemeine Zustimmung ernten. Formulieren wir etwas genauer: "Wenn wir eine Population von wildlebenden Tieren - z. B. Wölfe - maximal ausbeuten, gefährden wir deren Bestand". Auch dieser Satz wird wohl meist bejaht. Wir wollen ihn mit Hilfe einer Simulation überprüfen.
Das Grundmodell: Das Wachstumsmodell für die Population werden wir in Anlehnung an die Zinseszinsrechnung entwickeln (Wilson/Bossert, 1973). N(t) möge das Guthaben im Jahre t bezeichnen. Mit r bezeichnen wir die Zuwachsrate (den Zinssatz je Jahr), angegeben in Prozent. Für das Wachstum des Guthabens vom Jahr t bis zu Folgejahr t+1 ergibt sich, solange kein Geld entnommen wird, das folgende einfache Wachstumsgesetz
In Worten: Neuer Bestand = Alter Bestand + Zuwachsrate · Bestand.
Wir setzen den Anfangsbestand N(0) als bekannt voraus. Aus dem Wachstumsgesetz ergibt sich eine Gleichung für N(1). Jetzt wiederholen wir das für t=1 und erhalten N(2), usw. Das Wachstumsgesetz liefert uns also Schritt für Schritt die Folge der Bestandswerte.
Variable Schrittweite: Es ist nicht sinnvoll, stets eine bestimmte vorgegebene Periodendauer zu Grunde zu legen. Zinsen werden ja nicht ausschließlich im Jahresrhythmus gutgeschrieben, sondern auch in kürzeren Zeitabschnitten. Stattdessen wird man den Zinssatz proportional zur Länge des Zeitschritts h ansetzen; h·r ist dann der Zinssatz und r die auf die Zeiteinheit bezogene Zuwachsrate. Nehmen wir eine Zuwachsrate von r = 6 %/Jahr. Dann ergibt sich der Zinssatz für einen Monat, also h = 1/12 Jahr, zu h·r = 1/12 · 6 % = 0.5 %. Die Wachstumsgleichung sieht in diesem verallgemeinerten Fall so aus
Dementsprechend ist jetzt die Zeitvariable t nicht mehr
notwendigerweise ganzzahlig.
Diese Gleichung lässt sich in die Form
bringen. Der
Differenzenquotient auf der linken Seite strebt mit kleiner werdendem h
gegen die Wachstumsgeschwindigkeit , die manchmal auch in
Punktnotation geschrieben wird:
oder auch nur
. Damit erhalten wir das Wachstumsgesetz in der
kontinuierlichen Form:
Übung 4 „Zins mit variabler Schrittweite“: Ein Guthaben von 100€ wird mit jährlich 6% verzinst. Klarerweise ist der Kontostand nach 1 Jahr 106€. (Excel: ZinsVariableSchrittweite.xlsx)
a.
Wie ändert sich die Sachlage, wenn monatlich mit
einem Zinssatz 6%/12 verzinst wird? Simulieren Sie mit Schrittweite h=1/12. Was
ist nun der Kontostand nach 1 Jahr?
b.
Wie ändert sich die Sachlage, wenn täglich mit
einem Zinssatz 6%/365 verzinst wird? Simulieren Sie mit Schrittweite h=1/365.
Was ist nun der Kontostand nach 1 Jahr?
c.
(Zusatz: Welchem Grenzwert nähert sich der
Kontostand bei immer kürzerer Schrittweite an?)
Das Wachstumsgesetz des
kontinuierlichen Systems haben wir also in folgende Gestalt gebracht:
.
Diese Gleichung nennen wir Systemgleichung
oder auch Übergangsbeziehung; f heißt Übergangsfunktion. Im
vorliegenden Fall ist einfach N(t) = z(t) zu
setzen. (Im allgemeinen Fall kann es sich bei z(t)
um einen mehrdimensionalen Zustandsvektor handeln.) Der Anfangswert z(0) der Zustandsgröße ist vorgegeben.
Die Aufgabe, die Zeitfunktion z(t)
so zu bestimmen, dass sie der Übergangsbeziehung und der Anfangsbedingung
genügt, wird auch Anfangswertproblem
genannt.
Für die (näherungsweise)
Lösung dieses Anfangswertproblems machen wir einfach den oben durchgeführten
Schritt der Ersetzung des Differenzenquotienten
durch den Differentialquotienten dz(t)/dt
wieder rückgängig. Dieser Schritt heißt Diskretisierung.
Wenden wir uns nun wieder der ursprünglichen
Aufgabe zu: Simulation des Wachstumsgesetzes einer freilebenden bejagten
(bewirtschafteten) Population.
Wir nehmen der Einfachheit halber an, die
fragliche Population unterliege einem einfachen Gesetz des begrenzten
Wachstums. Der anfangs kleine Bestand N möge jährlich um einen
bestimmten Prozentsatz - sagen wir r = 5 % - wachsen. Je
größer die Population ist, umso mehr verringert sich diese Zuwachsrate, weil
nicht genug Futter für den Nachwuchs da ist.
Wir müssen also mit einer bestandsabhängigen
Zuwachsrate rechnen. Diese Zuwachsrate geht gegen null, wenn sich die Größe
N der Population einem Wert nähert, der von der Umwelt gerade noch
verkraftet wird. Dieser Wert wird als Kapazität bezeichnet und erhält
das Symbol K. Wir setzen hier einmal K=100. Ein für unsere Zwecke
brauchbarer Ansatz für die Zuwachsrate ist r×(1-N/K).
Das Wachstumsgesetz sieht jetzt so aus
Übung 5: Erstellen Sie eine Tabellenkalkulation B_Wachstum.xlsx, in der Sie die obige DGL simulieren. Zweckmäßigerweise arbeiten
Sie mit 3 Spalten t, N(t), dN/dt. Können Sie mit
Ihrer Simulation die untenstehende Grafik reproduzieren?
In der Simulation B_Wachstum.xlsx ist als Anfangswert N(0) = 2
gewählt. Das Wachstum der Population über einen Zeitraum von 150 Jahren ist im
folgenden Bild als dunkle Kurve dargestellt. Die Steigung dieser Kurve ist
gleich der Wachstumsgeschwindigkeit, also gleich dem Zuwachs des Bestands je
Zeiteinheit (helle Kurve).
Anfangs ist, wegen der kleinen Population, die
Wachstumsgeschwindigkeit klein. Da die Kapazitätsgrenze noch fern ist, ist das
Wachstum nahezu exponentiell, proportional ert.
Die Wachstumsgeschwindigkeit steigt mit zunehmender Population an. Ihr Maximum
erreicht die Wachstumsgeschwindigkeit, sobald die Population halb so groß wie
die Kapazität der Umwelt ist: N = K/2 = 50. Danach geht die
Wachstumsgeschwindigkeit wegen der abnehmenden Zuwachsrate zurück.
In der Populationsdynamik spricht man auch von K-
bzw. r-Wachstum, je nachdem, ob sich eine Population an der Kapazitätsgrenze
befindet oder nicht. Die an diese Bereiche angepassten Überlebensstrategien von
Populationen unterscheiden sich grundlegend. Beim K-Strategen kommt es nicht so
sehr darauf an, möglichst viele Nachkommen zu haben, sondern darauf, dass deren
Überlebens- und Konkurrenzfähigkeit besonders hoch ist.
Wer eine maximale Ausbeute der bejagten Population
anstrebt, wird die Population bis auf den halben Kapazitätswert anwachsen
lassen; denn dort erreicht sie die maximale Wachstumsgeschwindigkeit. Er wird
sie dann durch Bejagen auf diesem Bestand halten und im Mittel 1.25 Einheiten
je Zeiteinheit jagen können.
Das Streben nach maximalem Ertrag sichert
demzufolge einen ausreichenden Bestand der bejagten Population - entgegen der
zunächst geäußerten Meinung.
Wenn wir - ganz Egoisten - den langfristig haltbaren
Höchstertrag anstreben, müssen wir nach dem Prinzip der Nachhaltigkeit
(Sustainability) wirtschaften. Das nützt uns und der Umwelt. Dass wir das oft
nicht tun, liegt daran, dass viele Jäger um die Beute konkurrieren und dass
jeder einen möglichst großen Teil des "Kuchens" abkriegen will. Es
ist unsere Unfähigkeit, die sogenannte Tragödie der Gemeingüter (Tragedy
of the Commons) zu verhindern, die uns in Schwierigkeiten bringt. Dieser
wichtige Begriff ist von Garret Hardin und wird u. a. in Global 2000 genauer
erläutert. Der eng- und kurzsichtige Egoist macht sich und anderen Probleme -
nicht dagegen der "Weitwinkelegoist".
Fazit: Egoistische
Ausbeutung einer Population führt keineswegs zu deren Gefährdung, vorausgesetzt,
wir handeln nach dem Grundsatz vom "langfristig haltbaren
Höchstertrag". Nicht unser Egoismus ist das Problem, sondern unsere
Dummheit.
Übung 6: Rekapitulieren Sie die Physik des Sprungs vom 10m-Turm (s.
Diskretisierung.html). Erstellen Sie ein Arbeitsblatt Sprung10m.xlsx, in dem dieser Vorgang simuliert und grafisch visualisiert
wird.
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© Timm
Grams, 1999
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